„Die Sage von Thyth“ oder „Was liegt unter the þit“
In alter Zeit, als die Wälder der Haard noch unberührt waren, gab es dort eine alte Dame. Sie lebte mit ihrem Haustier, der Eule Geneviève, in einer einfachen Steinhütte, die hinter einer Wand aus Schlehenbäumen versteckt lag.
Viele Generationen später gab es in denselben Wäldern einen jungen Förster, der das Gefühl der Waldeinsamkeit liebte. Eines Tages, nach einer langen Meditation auf seinem Hochsitz, hörte er ein sehr lautes Geräusch, das aus der Richtung des Teufelsteins kam. Er rannte so schnell er konnte dorthin, und aus irgendeinem Grund war die Luft voll mit aufgewirbeltem Erdstaub, als ob der Stein sich bewegt hätte! Durch die Staubwolke konnte er auf dem Boden etwas Glänzendes erkennen. Als er danach griff und den Staub wegwischte, erkannte er, dass es eine alte, glänzende Kiste war, hergestellt aus dem allerschönsten Stein. In dieser Kiste fand er einige Aufzeichnungen, die von Hand auf ein altes, dünnes Papier geschrieben worden waren. Der größte Teil war schon zerfallen, aber er konnte noch ein paar Ausschnitte davon lesen.
Er sah sich um, um sicher zu sein, dass er ganz allein war. Mit zittrigen Fingern entwirrte er die empfindlichen Stücke. Vorsichtig zog er das erste heraus, und las:
“Gewitter. Wolken fegen über den schwarzen Himmel während Furcht erregende Winde ganze Bäume hinfortwirbeln. Blitze zucken in verschiedenen Farben. Sie sind sein Dorn. Hin und wieder lässt er seiner Macht, dem Chaos, freien Lauf. Geneviève ist hier drinnen und zerrupft friedlich und liebenswürdig eine Maus. Ich habe auch niemals Angst vor Stürmen. Ich habe nie Angst vor Donnern und Blitzen. Ich habe meinen Donnerbart auf dem Dach. Und einen Zaun aus Schlehen, an dem der Riese mich als seinen Freund erkennt, sodass er uns in einer stürmischen Nacht niemals erschlagen wird.“
Der junge Förster wusste von diesen Pflanzen. Der Donnerbart ist das Sempervivum, und die Schlehe ist dieser stachelige, kleine Baum, der für seinen Likör bekannt ist. Er hatte aber noch nie gehört, dass diese Pflanzen einmal dafür bekannt waren, besondere Schutzkräfte zu besitzen, oder dass man sie auf vielen Dächern fand. „Aberglaube“, dachte er, „diese Texte müssen also wirklich alt sein.“
Ein zweites Fragment:
“(…) und so feiere ich an diesem Tag, dass ich mein neues Zuhause gefunden habe. Denn hier werde ich fern der Augen der Menschen sein, und fern der Augen der Macht. Hier werde ich frei sein, so zu leben, wie mir der Sinn steht, und meine Leidenschaft fortführen. Die Villa, in der ich während der letzten fünfzig Jahre gelebt habe, ist nicht mehr sicher. Ich bin bereits eine sehr alte Frau, weswegen man sich kaum um mich kümmert, aber nun, da die arme Anna Spiekermann ihren tragischen Tod gefunden hat, darf ich nicht riskieren, auch gejagt zu werden. Noch nicht lange her, da ließen Menschen wie diese die Leichen von Rebellen in den Käfigen in Münster verrotten, weit oben aufgehängt, für alle sichtbar. Nein, ich werde nicht gejagt werden! Ich sehe einen Schleier aus Unmenschlichkeit, größer als die Meere, der auf die ganze Erde gefallen ist. Einen fröhlichen Ort gibt es nur hier, wo ich nun leben werde, allein, mit den Pflanzen, die mich beschützen und heilen, und mit meiner guten Freundin, Geneviève.“
“Oh Riese, Riese in den Wäldern, Riese in den Winden, Riese im Himmel und in den Sternen. Oh, Riese in der Maus, Riese in der Katze, Riese im Murmeltier, Riese im Bullen, Riese im Bären und Riese in der Eule! Jedes Auge wird dein Augenlicht erhellen und jeder Knochen wird deinen Körper erwecken und zurück zur Erdoberfläche bringen. Jedes Herz und jede Seele werden riesige Felsen hochheben und herumwirbeln, als wären sie eine Handvoll Sand. Noch einmal sollst du dich aus dem Untergrund erheben, gestärkt durch diese Gesänge und durch dies‘ Fleisch, das ich dir biete, (…)“
Der junge Förster spürte, wie im ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. Nicht wegen des Riesen, oder wegen der alten Frau, die eine Hexe zu sein schien, denn er kannte sie als Figuren aus Erzählungen alter Zeiten. Aber was Geneviève betraf, nun, er zitterte da er wusste, dass die Eulen nicht das sind, was sie scheinen.
Und dennoch, mutig wie er war, atmete er tief ein und begann erneut zu lesen. Immer noch saß er beim Teufelstein im schwachen Licht des herbstlichen Sonnenuntergangs.
Das nächste Fragment schien einen heftigen Kampf zu beschreiben:
“(…) Schreie, Köpfe und Verzweiflung. Was für ein riesiges Ungetüm, mit der Kraft von tausend Männern und einem bodenlosen Hunger. Mit einem langen und nassen Schwanz, der mit Seetang umwickelt war, sein Körper bedeckt mit kleineren, hungrigen Kreaturen. Seine monströsen Hände, jede größer als ein erwachsener Mensch, schleuderten Bäume und riesige Steine aus dem Weg, damit es Thyth, den Riesen, erreichen konnte. Und so bewegte es sich fort und hinterließ große Löcher in der Erde, so gewaltig wie umgedrehte Berge. Menschen rannten in Angst davon, schrien und beteten um ihr Leben. Währenddessen warfen die beiden Kreaturen weiter Felsen aufeinander, die so groß wie Kirchen waren. Von jenseits der Hügel (…diesen Teil konnte er nicht lesen…) das neugeborene Ungeheuer verfolgte Thyth durch viele Ländereien, von den sonnigen bis zu den schneebedeckten, gierig nach seinem Blut. Seine Fußabdrücke waren so tief, dass sich Regenwasser darin sammelte und sie neue Grenzen formten. Thyth war verletzt und schwach, er verspürte große Schmerzen wegen seiner Wunden und wegen seines traurigen Herzens. Er konnte nicht unter einem Herrn leben; er würde niemals ein Sklave sein. So würde Thyth, der Riese der tausend Geister, bis zum bitteren Ende kämpfen. Zwei Nächte später trafen sich die beiden gewaltigen Kreaturen unter einem mondlosen Himmel in der Haard und schepperten ineinander, sie schlugen sich gegenseitig mit all ihrer Kraft. Thyth brüllte vor Zorn und zerschlug den Kiefer des anderen Riesen mit seinem letzten Blitz. Doch dieser letzte Schlag konnte seinen Gegner nicht besiegen. Er war bereits zu schwach; seine tausend Geister hatten schon begonnen, sich aus seiner Form zu lösen. Die gewaltigen Kräfte des Riesen lösten sich in einer zentripetalen Bewegung in Luft auf, verwandelten ihn in einen Kieselstein und versetzten ihn in Schlaf, in den Tiefen des Untergrunds.“
Thyth, der Riese des Chaos, der Träger tränenvoller Dornen und Blitze war also besiegt worden. Der junge Förster konnte sich immer noch nicht vorstellen, was für eine Kreatur solch einen Riesen besiegte. Wer, oder was, konnte stark und mächtig genug sein, um Thyth zu besiegen?
Neugierig und aufgeregt las er weiter:
„Ich erinnere mich, als wäre es erst gestern geschehen. Wer könnte jemals ein so schreckliches Ereignis vergessen? Nach dem Kampf wurden der Boden und die Steine umherbewegt und die Bäume auseinandergerissen. Die Wolken waren schwer vor Kummer und niemand konnte auch nur einen einzigen Ton hören. Kein Vogel, nicht einmal das Geräusch von Blättern im Wind. Die Natur schien sich in furchtbarem Erstaunen zu befinden, während die Menschen feierten. Die Menschen haben Thyth immer als ein viel Aufmerksamkeit einforderndes Wesen gesehen, mit dem sie wohl oder übel leben mussten. Mit diesem neuen Herrscher war viel leichter umzugehen, oder zumindest schienen sie das zu glauben. Aber die Natur weiß es besser. Eines Tages werden sie es lernen.“
„So sehr der Riese auch versuchte, zurückzuschlagen, war es schwer, den Tentakeln dieser gewaltigen, pyramidenförmigen Seekreatur zu entkommen, deren gekrönter Kopf durch unzählige, durcheinander stolpernde Seelen hochgehalten wurde. Dieses Wesen war durch schwache Seelen hervorgerufen, geformt und ernährt worden. Es ist der Traumfänger. Ich sehe, dass es für viele Jahrhunderte auf der Erde leben wird.“
“Es besitzt nun alle Macht. Wo immer der Mensch ist, dort wird seine Macht sein. Es entscheidet und beherrscht nun alles. Es scheint zwar gut zu sein, aber es verspricht, in einem Krieg aller gegen alle zu enden. Es bringt sogar die Natur dazu, sich gegen die Natur zu wenden, und rechtfertigt es als menschliche Evolution. Es hat sich über alle Lebewesen erhoben. Welch arme Seelen, ich sehe Väter und Töchter, und Arbeiter und Bettler, jung und alt, alle geben ihre Freiheit auf, weil sie das Chaos fürchten. In allen Ländern, sogar in den entferntesten, haben alle Menschen sich diesem grausamen Monstrum ergeben.“
‘Was für ein Monster kann das sein?‘, fragte sich der junge Förster. ‘Könnte es wirklich sein? Würde es heute noch leben und herrschen?‘ Noch ein Stück:
“Zu Beginn der Zeiten, zu Beginn der Natur, wurde Thyth geboren. Er war eine riesige Kraft, zusammengesetzt aus einer Vielzahl individueller Kräfte, die in Harmonie miteinander lebten. Eines Tages vergaß ein kleines Sandkorn, dass es nur ein Teil dieses Riesen war. Es reckte seinen Hals, blickte auf alles herab, was es umgab, und erklärte sich selbst zu einem Riesen. Von diesem Tag an begann ein endloser Kampf, alle kämpften gegen alle. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Riese zum ersten Mal in Schlaf versetzt. Der erste, der einem anderen diente, war ein großer Unwissender. Lieber Thyth, Riese der Dornen! Könige, Prinzen und Priester haben immerzu vor Dir Angst gehabt. Sie haben immer die Macht der tausend freien Geister in Dir gefürchtet. In ihrer Tyrannei beschützen sie die Mächtigen und die Reichen vor dem ungestillten Hunger des Riesen. Thyth, Riese der Vielfalt, Riese von Natur aus, so viele trachten nach Deiner Zerstörung!“
Das letzte Stück lag nun in seiner Hand. Sein Herz füllte sich mit Verwirrung und gemischten Gefühlen. Seine Seele erfuhr auf irgendeine Art ein leichtes Gefühl von Unsicherheit. Das Tageslicht war fast verschwunden. Er konnte kaum noch sehen, hatte aber eine Taschenlampe bei seinem Hochsitz, und so ging er zurück, er konnte es kaum erwarten, es zu lesen.
Als er den Gipfel des Hügels erreicht hatte, auf dem sein Hochsitz stand, machte er die Taschenlampe an. Es war der einzige Lichtstrahl, den man aus der Entfernung sehen konnte. Es war außerdem eine mondlose Nacht. Als er zu lesen begann, konnte er spüren: es war eine Art Prophezeiung.
“Der Bär wird den Bullen bei seinem langen Schwanz packen.
Die schwache Basis wird die Pyramide zum Einsturz bringen.
Keine Herrschaft des Metalls mehr, ein neues Zeitalter der Blitzströme wird beginnen.
Millionen von Murmeltieren verkünden einen frühen Frühling durch eine Blockkette, die den Riesen erwecken wird.“
Legend erholt und übersetzt von
Maíra das Neves und Pedro Victor Brandão
Mit der Zusammenarbeit von Kadija de Paula
und Bettina Lehnert – Stadtarchiv von Oer-Erkenschwick.
Übersetzung von Boris Miller
Die erste öffentliche Lesung von Nadine Molatta und Ralf Rieder bei der
Eröffnungsfeier des Parks der thit im Zentrum von Oer-Erkenschwick, Deutschland, 2014.